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Gustav Specht - erster Professor für Psychiatrie an der Erlanger Universität

Gustav Specht (1860-1940). Porträtsammlung der Universitätsbibliothek Erlangen-Nürnberg
Gustav Specht (1860-1940). Porträtsammlung der
Universitätsbibliothek Erlangen-Nürnberg

Als die "Irrenheilkunde" 1901 obligatorischer Bestandteil der universitären Lehre wurde, gab es in Erlangen noch keine eigene psychiatrische Uni-Klinik. Gustav Specht schlug daher vor, in zwei Geschossen der Erlanger Irrenanstalt eine akademische Psychiatrie einzurichten und begründete damit die Eigenständigkeit der Erlanger Psychiatrie.

Die Erlanger Kreisirrenanstalt

Als Gustav Specht (1860-1940), der sein Medizinstudium in Würzburg und München absolviert hatte, 1885 in Erlangen die Stelle eines Assistenzarztes antrat, galt die Kreisirrenanstalt als eine der größten einschlägigen Einrichtungen Deutschlands. Die Erlanger Kreisirrenanstalt war 1846 nach panoptischen Prinzipien im Pavillonsystem errichtet worden, ein anstaltsarchitektonisch deutschlandweit einmaliges Bauprinzip. Die spezielle Architektur ermöglichte eine umfassende Patientenbeaufsichtigung bei geringem Personalaufwand: Vom Beobachtungszimmer aus konnte die gesamte, sternförmig angelegte Station überblickt werden.[1] Unter der Leitung des Direktors Friedrich Wilhelm Hagen (1814-1888) sei, so Specht, "ein überaus warmer Ton familiärer Behaglichkeit durch das Haus gezogen", alles habe geklappt und sei stetig vorangegangen".[2] Auch Spechts Karriere ging voran: 1891 zum Oberarzt ernannt, war er bei Freiwerden des Direktorenpostens der Wunschkandidat der zuständigen Kreisregierung. Der zwischenzeitlich amtierende Anstaltsdirektor Anton Bumm (1849-1903) war 1896 nach München gewechselt. Das Ministerium entschied sich allerdings gegen Specht und für den älteren Anwärter, den Oberarzt der Kreisirrenanstalt Bayreuth, August Würschmidt.

Getrennt unter einem Dach - Universitätspsychiatrie in der Irrenanstalt

Würschmidt konnte die Fakultät jedoch nicht von sich überzeugen. Sie ernannte stattdessen Specht 1897 unter Aufrechterhaltung seiner Oberarztstelle in der Anstalt zum außerordentlichen Professor. Damit war Specht für den akademischen Unterricht zuständig. Vier Jahre später wurde laut Prüfungsordnung die "Irrenheilkunde" für die Lehre verpflichtend. Eine eigene psychiatrische Klinik, die die erhöhten Anforderungen an die Lehre hätte erfüllen können, konnte sich die Universität zu diesem Zeitpunkt aus finanziellen Gründen allerdings nicht leisten. Specht schlug daher vor, in zwei Geschossen des sogenannten Pflegebaus der Irrenanstalt eine psychiatrische Universitätsklinik einzurichten. Der Plan fand allgemeine Zustimmung: Mit Einzug der ersten 170 Patienten am 1. Oktober 1903 wurde Specht zum ersten ordentlichen Professor der Psychiatrie und Direktor der neuen Psychiatrischen Klinik in Erlangen berufen.

Die enge räumliche Verbindung von Universitätspsychiatrie und Irrenanstalt hatte aber durchaus auch Nachteile. Für den studentischen Unterricht hätte Specht, der das jetzt vollgültige Fach der Fakultät nach exakter klinischer Beobachtung lehren wollte, möglichst interessante Fälle benötigt: Akutpatienten in psychopathischen Grenzzuständen oder mit Vergiftungspsychosen. Unter den seit dem 1. Oktober 1903 aufgenommenen Patienten waren jedoch häufig Langzeitkranke oder sogenannte "Unheilbare", die wenig geeignetes "Material" für die Lehre darstellten. Specht bemühte sich daher etliche Jahre, letztlich allerdings vergeblich, um die Etablierung einer eigenständigen universitären Psychiatrie in einer räumlich getrennten Klinik. Als 1934 die Umbenennung der Universitätspsychiatrie in "Nervenklinik" zur Diskussion stand, lehnte Specht ab. Der beschönigende Ausdruck "nervenkrank" träfe auf die "nicht kleine Anzahl von Geisteskranken akuter und chronischer Art", die die Klinik zu betreuen habe, schlechterdings nicht zu[3].

Medizin unter Kriegsdruck

Im Ersten Weltkrieg wurde Specht, der im Laufe seiner Amtszeit mehrfach Dekan der Medizinischen Fakultät war, zum obersten militärpsychiatrischen Repräsentanten der Universität. Schon in seinem Vortrag "Krieg und Geistesstörung" von 1913 hatte Specht in seiner Funktion als amtierender Prorektor der Universität die besonderen Aufgaben der Medizin "unter dem Druck der kriegerisch gefärbten Zeitverhältnisse der Wissenschaft" betont.[4] Man wisse, so Specht, dass unter der "Summation der Strapazen einerseits und der Heranziehung minderwertigen Menschenmaterials andererseits" die psychischen Erkrankungen unter den Soldaten rasch zunehmen würden. Es käme daher darauf an, die Geisteskranken baldmöglichst vom Kriegsschauplatz zu entfernen oder gar nicht erst an die Front zu schicken: "Je weniger Irreseinskandidaten man mit in den Krieg ziehen lässt, destoweniger Geisteskranke wird es im Krieg geben. Das ist ein einfaches Rechenexempel"[5]. Specht, ab 1916 psychiatrischer Beirat im 3. Bayerischen Armeekorps, beeinflusste maßgeblich den Umgang mit den psychisch kranken Soldaten, die im Erlanger Reservelazarett behandelt wurden. Dabei stand er der weitverbreiteten aktiven Kriegsneurotikertherapie durchaus kritisch gegenüber. Er misstraute den propagierten Erfolgen der von Psychiatern und Neurologen entwickelten, drakonischen und an soldatische Strafexzesse erinnernde Behandlungsformen, z. B. das Zwangsexerzieren nach Ferdinand Kehrer, die Anwendung von schmerzhaften Stromschlägen nach Ferdinand Kehrer oder das bewusste Auslösen von Erstickungsangst bei der Muck'schen Kehlkopftherapie nach Otto Muck. Specht kritisierte das zugrunde liegende Therapieverständnis und forderte eine Rückbesinnung auf traditionelle medizinethische Standards.[6] Seine Erlanger Fallvorstellungen zur Psychopathologie der Fahnenflucht wiederum lassen allerdings vermuten, dass er dem vorherrschenden Konzept einer anlagebedingten "Schwäche" der "Davonläufer" durchaus zu folgen gewillt war. Patienten, die der Psychiater während einer Versammlung der Erlanger Militärärzte vorstellte, beschrieb er als haltlose "Streuner", "moralisch defekt" oder "alkoholdegeneriert".

"Aber man darf ja nichts sagen" - Spechts Kritik am GzVeN

Nach dem zum 1. Januar 1934 in Kraft getretenen "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" (GzVeN) sollten Personen mit "Erbkrankheiten" durch chirurgische Eingriffe sterilisiert werden. Das Gesetz wurde von den Psychiatern, die durch eine Anzeigepflicht ihrer "erbkranken" Patienten und ihre Gutachtertätigkeit an den zuständigen Erbgesundheitsgerichten an der Durchführung des Gesetztes aktiv beteiligt waren, mehrheitlich begrüßt. Als einer der wenigen Kritiker des Gesetzes bezweifelte Specht die vermeintlich wissenschaftlich belegte "Vererbbarkeit" der im Gesetz benannten "Erbkrankheiten". Seine Kritik an den "Massensterilisationen, gegen die der bethlehemsche (sic) Kindermord ein Kinderspiel war" äußerte er allerdings nur privat, denn "man darf ja nichts sagen" . Auf der Grundlage des Gesetzes wurden an der Erlanger Frauenklinik von 1934 bis 1944 insgesamt 434 Frauen zwangssterilisiert.

Specht, der sich in seinen wissenschaftlichen Werken vor allem mit Fragen der Paranoia beschäftigte, so z. B. in "Chronische Manie und Paranoia" (Berlin 1905), trug zum Ausbau der Erlanger Universitätspsychiatrie zu einer an den Erfordernissen von Forschung und Lehre orientierten Klinik entscheidend bei. Die Stadt Erlangen benannte 1962 die Gustav-Specht-Straße am nordöstlichen Stadtrand nach ihm.

[1] Braun, B./Kornhuber, J.: Die einzige „panoptische“ Anstalt Deutschlands: Eine Würdigung der „Kreis-Irrenanstalt Erlangen“. In: Fortschritte der Neurologie Psychiatrie 2013; 81(3): 162–168.
DOI: 10.1055/s-0032-1330629

[2] Kirchhoff, Theodor: Deutsche Irrenärzte: Einzelbilder ihres Lebens und Wirkens. Berlin 1921, S. 253–260, hier S. 260.

[3] Zitiert nach Wittern-Sterzel, Renate: Psychiatrie - der lange Weg in die Selbständigkeit. In: 200 Jahre Universitätsklinikum Erlangen 1815–2015. Hg. Karl-Heinz Leven/Andreas Plöger. Böhlau: Köln/Weimar/Wien 2016, S. 130–141, hier S. 140.

[4] Krieg und Geistesstörung. Rede beim Antritt des Prorektorates der Königlich Bayerischen Friedrich-Alexanders-Universität Erlangen am 4. November 1913 gehalten von Dr. Gustav Specht, o. Professor der Psychiatrie, Direktor der Psychiatrischen Klinik. Erlangen 1913, S. 1. 

[5] Zitate ebd. S. 13 und S. 14.

[6] Rauh, Philipp: Die Behandlung psychisch kranker Soldaten in Erlangen. In: 200 Jahre Universitätsklinikum Erlangen 1815–2015. Hg. Karl-Heinz Leven/Andreas Plöger. Böhlau: Köln/Weimar/Wien 2016, S. 160–163. 

Literatur: 200 Jahre Universitätsklinikum Erlangen 1815 - 2015. Hg. Karl-Heinz Leven/Andreas Plöger. Böhlau: Köln/Weimar/Wien 2016, S. 130–141 und  262–292.