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Hans Heinrich Wieck - 1961 "Durchgangssyndrom"

Hans Heinrich Wieck, Böcker, Felix (Hg.): Forschung an der 
Universitäts-Nervenklinik Erlangen.
Festschrift zum 60. Geburtstag von H. H. Wieck. 
Stuttgart/New York 1980, S. 12
Hans Heinrich Wieck, Böcker, Felix (Hg.): Forschung an der
Universitäts-Nervenklinik Erlangen.
Festschrift zum 60. Geburtstag von H. H. Wieck.
Stuttgart/New York 1980, S. 12

Mit dem Begriff "Durchgangssyndrom" wird ein psychisches Krankheitsbild umschrieben, das eine körperliche Ursache hat. Bei älteren Patienten ist es eine der häufigsten Komplikation nach Operationen. Der Name für diesen vorübergehenden Symptomkomplex wurde vom Erlanger Psychiater und Neurologen Hans Heinrich Wieck geprägt.

Forschung zu Erinnerungen

Der aus Hamburg stammende Wieck (1918 - 1980) studierte ab 1939 Medizin in Hamburg, Leipzig und Greifswald und war nach seiner Promotion 1944 noch ein Jahr in Kriegslazaretten eingesetzt. Von 1946 bis 1950 arbeitete er als Assistent bei Werner Scheid (1909 - 1987) in der Neurologie des neuen Allgemeinen Krankenhauses Hamburg-Heidberg. Nach seiner psychiatrischen Ausbildung bei Kurt Schneider, Professor für Psychiatrie und Neurologie in Heidelberg (1887 - 1967), folgte Wieck 1951 seinem Hamburger Lehrer Scheid an die Universitätsnervenklinik Köln. Dort beschäftigte sich der Oberarzt in den ersten Jahren im Wesentlichen mit Fragen der Psychologie und der Psychopathologie der Erinnerungen, die er 1953 auch zum Thema seiner Habilitation machte.[1] Seit 1959 außerplanmäßiger Professor, übernahm Wieck 1962 den Lehrstuhl für Grundlagenforschung in Neurologie und Psychiatrie. In seiner Kölner Zeit baute Wieck seinen Arbeitsschwerpunkt der Klinischen Neurologie zunächst in zahlreichen neurophysiologischen experimentellen Studien weiter aus. Während seines einjährigen Forschungsaufenthaltes in den USA 1957/58 forschte er in tierexperimentellen Untersuchungen zur Funktion der Hirnrinde (Cortex).

Durchgangssyndrom - Bewusstseinsstörungen sind reversibel und messbar

Nach seiner Rückkehr nach Köln entwickelte Wieck Ende der 1950er-Jahre das Konzept der körperlich bedingten "Funktionspsychosen", einem Sammelbegriff für bestimmte Bewusstseinsstörungen, zu denen er auch das von ihm so benannte "Durchgangssyndrom", die Bewusstseinstrübung sowie die Bewusstlosigkeit und das Koma zählte. In Abgrenzung zu den irreversiblen psychischen Erkrankungen, die zu bleibenden Persönlichkeitsveränderungen führten, waren die von Wieck neu beschriebenen Symptome allerdings reversibel. Bei seinen täglichen Visiten hatte er bemerkt, dass Patienten nicht - wie erwartet - dauerhafte "Defektsymptome" zeigten, "sondern gar nicht selten als unauffällig in ihre Familie und ihren Beruf zurückkehren konnten".[2]

Diese vorübergehende Beeinträchtigung der "seelisch-geistigen Funktionen" war Wieck zufolge grundsätzlich messbar. Davon überzeugt, dass klinisch geschulte Beobachter mithilfe spezieller Tests die Störungen klinisch registrieren und quantifizieren könnten, ließ er im Mitarbeiterkreis 1959 einen Syndromtest zur Bestimmung der unterschiedlichen Schweregrade der Funktionspsychose entwickeln. Ausgehend von diesem von Friedrich Böcker entwickelten Test wurden an Wiecks Klinik zahlreiche weitere klinisch anwendbare Messverfahren erprobt und damit der eigene Forschungsbereich der Psychopathometrie geschaffen.[3]

Psychiatrie und Neurologie gehören zusammen

An 1.1.1967 übernahm Wieck als Nachfolger von Fritz Eugen Flügel (1897 - 1971) den Lehrstuhl für Psychiatrie und Neurologie in Erlangen. Zwar war die Neurologie zu diesem Zeitpunkt an etwa der Hälfte der Universitäten bereits selbstständig geworden, in Erlangen hielt man aber die Trennung zwischen Psychiatrie und Neurologie immer noch für eine künstliche, die man als nicht praktikabel ablehnte. Wieck, der sich als Wissenschaftler, akademischer Lehrer und Kliniker immer für die enge Verbindung von Neurologie und Psychiatrie stark gemacht hatte, fand hier daher ein seiner Auffassung entsprechendes Arbeitsumfeld vor. In seiner Antrittsvorlesung stellte er ein ehrgeiziges Programm neuropsychiatrischer Forschungen vor, das eine beträchtliche apparative Ausstattung, personelle Aufstockung und intensivierte interdisziplinäre Zusammenarbeit zur erwünschten "kliniknahen Grundlagenforschung" erforderlich machte. In seine Amtszeit fiel auch der Bezug des Neubaus der Kopfkliniken 1977. Die Frage der Messbarkeit von psychischen Beeinträchtigungen sollte Wieck lebenslang beschäftigen: "Psychopathometrie: Kann man seelische Störungen messen?" lautete der Titel eines Vortrages, den er ein Jahr vor seinem Tod im Collegium Alexandrinum der FAU Erlangen-Nürnberg hielt.

Unnachgiebig gegenüber Vertretern der Antipsychiatrie

Wieck hatte in seinen mehr als 300 Publikationen und unzähligen Vorträgen kontinuierlich für die Verbreitung der Klinischen Neuropsychiatrie geworben. Mit dieser neuropsychiatrischen Ausrichtung stieß er, psychoanalytischen oder tiefenpsychologischen Ansätzen wenig zugeneigt, bei Vertretern der Antipsychiatrie-Bewegung der 1970er-Jahre auf deutliche Missbilligung. Die gesellschaftskritische "Antipsychiatrie"-Bewegung der 1960er- und 1970er-Jahre stellte die ausschließlich naturwissenschaftlich-medizinisch ausgerichtete Psychiatrie infrage, bemängelte vor allem das "Labeling" psychotischer Erkrankungen, das heißt die Zuschreibung von Diagnosen durch Psychiatrie und Gesellschaft, und lehnte die gängigen Behandlungen durch Medikamente ab.[4] Die Befürworter der "klassischen" Psychiatrie warfen der Bewegung wiederum vor, dass sie genetische und somatische Ursache für psychiatrische Erkrankungen einfach ignorierte. Auch Wieck gehörte zu den unnachgiebigen Gegnern der sich als "Antipsychiatrie ausgebenden Strömungen". Er forderte stattdessen den Erhalt einer "wissenschaftlichen Psychiatrie, die nichts mit Politik und den sie begleitenden Trabanten zu tun haben will".[5]

Nach Wiecks Tod wurden auch in Erlangen zwei getrennte Lehrstühle für Psychiatrie und Neurologie eingerichtet.[6] Einen guten Überblick über die wissenschaftliche Tätigkeit von Hans Heinrich Wieck bietet die Festschrift seiner Schüler und Mitarbeiter anlässlich seines 60. Geburtstages im Jahr 1978, deren Erscheinen 1980 Wieck allerdings nicht mehr erlebte.[7]


[1] Wieck, Hans Heinrich: Psychologie und Psychopathologie der Erinnerungen. Stuttgart 1955..

[2] Böcker, Felix (Hg.): Forschung an der Universitäts-Nervenklinik Erlangen. Festschrift zum 60. Geburtstag von H. H. Wieck. Stuttgart/New York 1980, S. 9. Vgl. auch Reiß, Katrin: Delir, Apoplex, Tod oder kognitive Beeinträchtigung nach koronarer Bypassoperation… Diss. Med. Erlangen 2012; http://nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn:nbn:de:bvb:29-opus-36070, S. 8 – 10.

[3] Wieck, Hans Heinrich: Neurologie und Psychiatrie in der Praxis. Notfälle-Sprechstunde. Stuttgart/New York 1967, S. 292 – 298.

[4] http://www.aerzteblatt.de/pdf.asp?id=163493 vom 09.02.2016

[5] Böcker, Felix (Hg.): Forschung an der Universitäts-Nervenklinik Erlangen. Festschrift zum 60. Geburtstag von H.H . Wieck. Stuttgart/New York 1980, S. 11.

[6] 200 Jahre Universitätsklinikum Erlangen 1815 - 2015. Hg. Karl-Heinz Leven/Andreas Plöger. Böhlau: Köln/Weimar/Wien 2016, S. 139 – 141.

[7] Böcker (wie Anm. 2)