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Anfänge der Schocktherapie

Quelle: MedSiemensArchiv
Quelle: MedSiemensArchiv

Geschockte Patienten - Elektroschocks sollen Psychiatriepatienten heilen

Anfang der 1930er-Jahre wurden die sogenannten Schocktherapien in die psychiatrische Behandlungspraxis eingeführt. Die durch Cardiazol- oder Insulingaben ausgelösten Krampfanfälle sollten bislang als unheilbar geltende Patienten von ihren Psychosen heilen. Erstmalig verwendet wurde Cardiazol vom ungarisch-amerikanischen Neurologen und Psychiater Ladislas J. Meduna 1934.

Anfänge der Schocktherapie

Die medikamentös ausgelösten Krampfanfälle führten allerdings häufig zu Luxationen und Knochenbrüchen, zudem lösten die Medikamente vor Einsetzen des Krampfes massive Angstzustände aus. In Italien wurde daher intensiv an der Weiterentwicklung der Schocktherapie gearbeitet. Vor allem Ugo Cerletti (1877 – 1963) und Lucio Bini (1908 – 1964) forschten im Tierexperiment an der Auslösung von Krampfanfällen durch Strom. Ihre 1938 entwickelte Methode der elektrischen Krampftherapie basierte auf ihrer Beobachtung von Nutztieren, die auf dem Schlachthof nach der elektrischen Betäubung Krampfanfälle bekamen.

Siegeszug an der Psychiatrischen und Nervenklinik Erlangen

Im September 1939 fragte der Erlanger Oberarzt der Psychiatrischen und Nervenklinik Erlangen, Adolf Bingel (1901 – 1982) bei den Erlanger Siemens-Reiniger Werken (SRW) an, ob dort zur Überprüfung der von Cerletti und Bini entwickelten Methode eine entsprechende Apparatur gebaut werden könne. Noch im November stellte SRW der Psychiatrischen und Nervenklinik ein Testgerät zur praktischen Erprobung zur Verfügung. Bereits am 1. Dezember 1939 wurde dann in Erlangen die deutschlandweit erste Elektrokrampftherapie durchgeführt. Bingel testete das Gerät an als nicht therapierbar geltenden Patienten und war begeistert: Die erwünschten Anfälle traten mit „phantastischer Bestimmtheit“ auf und würden von den Patienten ausgezeichnet vertragen. Auch der Direktor der Klinik, Prof. Friedrich Meggendorfer (1880 – 1953), der anfänglich Bedenken gegen die sofortige Erprobung am Menschen geäußert hatte und das Verfahren zunächst an Hunden testen wollte, war jetzt von der Wirksamkeit der neuen Methode überzeugt.[1]  Innerhalb weniger Monate wurden 52 Patienten, bis zum 31. August 1941 insgesamt 171 Patienten, mit der Elektrokrampftherapie behandelt.

Der Vorteil des in enger Zusammenarbeit mit den Klinikern entwickelten Siemens-„Konvulsators“ gegenüber dem in Italien entwickelten Gerät lagen klar auf der Hand: zuverlässige Dosierbarkeit der Behandlungsstromstärke bei dennoch einfacher Handhabung sowie automatisch wirkenden Schutzeinrichtungen. Schwere Nebenwirkungen wie Knochenbrüche und Luxationen traten in Erlangen tatsächlich seltener auf als anderswo. Meggendorfer führte dies auf die von Bingel vorgeschlagene spezielle Lagerung des Patienten zurück, vor allem aber auf die individuelle und genaue Dosierbarkeit des Stromes.

Testphase in der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar, München

SRW war an einer möglichst raschen Rückmeldung hinsichtlich der therapeutischen Erfahrungen mit der Elektrokrampftherapie interessiert. Eine zweite praktische Erprobungsphase des Gerätes lief daher nahezu zeitgleich auf der 1936 eröffneten Insulinstation der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar, die im Vergleich zu Erlangen das sehr viel größere „Patientenmaterial“ besaß. Wie auch in Erlangen schienen die Ergebnisse überaus positiv zu sein, viele der mit der Elektrokrampftherapie behandelten Patienten konnten wieder „nützlicher Arbeit“ zugeführt werden. Der Leiter der Insulinstation, Anton von Braunmühl (1901 – 1957), hatte durch seine Serienuntersuchungen an alten Erkrankten auch die für alle Anwender zentrale Frage der richtigen Dosierung der Stromstärke klären können.

Weiterentwicklung des Verfahrens

Die Vertreter der Antipsychiatriebewegung der 1970er-Jahre sahen in den Schocktherapien den Beleg für den rigiden Disziplinierungswillen der Psychiatrie. Der US-amerikanische Psychiater Thomas Szasz (1920 – 2012) bezeichnete den Elektroschock in seinem Essay „From the slaughterhouse to the madhouse“ als eine Reinform des therapeutischen Totalitarismus. Heute wird die Elektrokrampftherapie in Kurznarkose u. a. zur Behandlung von Depressionen eingesetzt. Der wissenschaftliche Beirat der Bundesärztekammer vertritt in seiner 2003 veröffentlichten Stellungnahme die Position, dass die Elektrokrampftherapie wissenschaftlich begründet und für bestimmte psychiatrische Erkrankungen die bestmögliche Behandlung darstellt,[2] ihr Wirkmechanismus wurde auch am Universitätsklinikum Erlangen weiter erforscht. Danach gilt die Elektrokrampftherapie als wirksame antidepressive Therapie, deren genauen Wirkmechanismen jedoch noch weiter untersucht werden müssen.[3]

[1] Aktennotiz Dr. Pätzoldt, Betr. Elektroschocktherapie, Erlangen, 6. Dezember 1939, Siemens MedArchiv Zwischenarchiv, Ordner Technische Entwicklung.

[2] Stellungnahme zur Elektrokrampftherapie (EKT) als psychiatrischen Behandlungsmaßnahme, in: Deutsches Ärzteblatt 2003, 100, Heft 8, A 504-506.

[3] Christiane Ulrike Stark, Untersuchungen zum Wirkmechanismus der Elektrokrampftherapie (EKT) bei Depressionen. Diss. Med. der FAU Erlangen Nürnberg 2012.

 

Quelle: 200 Jahre Universitätsklinikum Erlangen 1815-2015. Hg. Karl-Heinz Leven/Andreas Plöger. Böhlau: Köln/Weimar/Wien 2016, S. 254ff.

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