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"Dass wiederum eine Reihe Verstümmelter mit eintraf"

Operationssaal im Lazarettzug V3. Quelle: MedSiemensArchiv, Abb. A 75_4
Operationssaal im Lazarettzug V3. Quelle: MedSiemensArchiv, Abb. A 75_4

Wie andernorts wurde auch in Erlangen der Erste Weltkrieg mit seinen waffenbedingt neuartigen Verletzungsarten als "hygienisch-bakteriologisches Laboratorium und Erfahrungsfeld" genutzt[1]. Die Opfer des technisch-industriell geführten Krieges waren auch für die Erlanger Kliniken "interessantes Material".

Erfolge in der Tetanusbekämpfung

Der Erste Weltkrieg war einer der ersten technisch-industriellen Kriege. Er konfrontierte die Krieg führenden Länder mit Verlusten in bis dato ungekannter Größe. Insbesondere Artilleriegeschosse mit Sprengwirkung führten zu tödlichen Verletzungen oder infolge der weiträumigen Zerstörung des Gewebes zu lebensgefährlichen Wundinfektionen. Besonders gefürchtet war die Tetanusinfektion (Wundstarrkrampf). In Erlangen setzte man auf die Spendenbereitschaft der Bürger, um die Kosten für die Behandlung mit dem neuen, teuren Tetanusheilserum zu finanzieren. Ohne die Therapie mit dem Antiserum, daran ließ der Erlanger Generalarzt und Chef des Reservelazaretts, Franz Penzoldt (1849-1927), keinen Zweifel, würden die Infektionen in 80 bis 90 Prozent der Fälle zum qualvollen Tode führen: "Hoffentlich gelingt es dann den Aerzten, manche von unseren braven Kämpfern vom Tode zu retten".[2] Der Erfolg seines Appells an die "allgemeine Liebesthätigkeit" war groß und aufgrund seines Vorbildcharakters der renommierten Münchner Medizinischen Wochenschrift eine lobende Erwähnung wert.[3] In den Lazarettabteilungen der Erlanger Kliniken hatte man laut Bericht der Münchner Medizinischen Wochenschrift in nur zwei Monaten ein "Material, das man in Friedenszeiten aus manch grosser Klinik nicht in 10 Jahren sammeln kann" und das jetzt die Möglichkeit einer Versuchsreihe bot, mit der man die experimentelle Forschung voranzubringen hoffte.[4] Nach der Einführung der prophylaktischen Impfung konnte die Zahl der Tetanuserkrankungen ab dem Spätsommer 1916 deutlich gesenkt werden.

Modernste Lazarettzüge

Im Oktober 1914 erklärte sich die Erlanger Reiniger, Gebbert & Schall AG bereit, einen modernen Lazarettzug zu finanzieren. Die Spende wurde "von der ganzen hiesigen Einwohnerschaft mit größter Freude und Dankbarkeit begrüßt". Der Bayerische Vereinslazarettzug V3, der Heeresverwaltung zur Verfügung gestellt, war einer der bestausgerüsteten Züge Deutschlands. Das aus Angehörigen der Erlanger Freiwilligen Sanitätskolonne und dem Erlanger Hochschulverband für freiwillige Krankenpflege im Kriege zusammengesetzte Personal des Zuges berichtete 1916 im sogenannten "Zweiten Gruß der Erlanger Universität an ihre Studenten" ausführlich über seine Arbeit, die es als "lebendig-organisierten Zusammenhang des Ganzen unserer nationalen Gemeinschaft" erlebte.[5] Die von der Universität herausgegebene Broschüre sollte als Bindeglied zwischen den Soldaten an der Front und der Stadt und der Erlanger Universität fungieren.

Bay. Hauptstaatsarchiv München, Abteilung IV, Stv. GenKdo II AK San-Amt Nr. 68, 
Der Stereoskiagraph nach Hasselwander (Werbebroschüre)
Der Stereoskiagraph nach Hasselwander (Werbebroschüre).
Quelle: Bay. Hauptstaatsarchiv München, Abteilung IV, Stv.
GenKdo II AK San-Amt Nr. 68

Experimente am Menschenhirn

Besonders die massiven Kopfverletzungen boten für Forschung und Lehre unzählige neue Fälle: "Da hat nun der Krieg in einer unerhörten und furchtbaren Mannigfaltigkeit am Menschenhirn Experimente angestellt" so der Erlanger Stabsarzt, Karl Kleist. Kleist, Psychiater in belgischen Kriegslazaretten, dachte "mit Freude daran, wenn ich wieder vor meinen Hörern stehen werde, um das lehrend weiterzugeben, was ich vom Krieg gelernt habe".[6] Kleists spätere Veröffentlichung "Kriegsverletzungen des Gehirns in ihrer Bedeutung für die Hirnlokalisation und Hirnpathologie" vermittelt mit ihren Fallvorstellungen heutigen Lesern eine ungefähre Ahnung von den gravierenden motorischen, sensorischen und psychischen Folgen der Gehirnschussverletzungen.

Schädelsteckschüsse lokalisieren

Die deutsche Kriegschirurgie, mit der Orthopädie das kriegswichtigste Fach, suchte dringend nach neuen diagnostischen Möglichkeiten. Der von Albert Hasselwander (1877-1954), Professor für Anatomie an der Universität Erlangen, entwickelte Stereoskiagraph ermöglichte erstmals eine präzise Lokalisation von Schädelsteckschüssen. Der Stereoskiagraph bestand aus einem Spiegelstereoskop aus zwei rechtwinklig gegeneinander geneigten Spiegeln und einem Messtisch, auf dem der durch einen leuchtenden Punkt markierte Fremdkörper nach Tiefe und Breite aufgezeichnet wurde. Das Verfahren wurde von Hasselwander in zahlreichen Veröffentlichungen vorgestellt und als beste Lokalisationsmethode in der Steckschusschirurgie intensiv beworben. "So kann wohl ohne Uebertreibung behauptet werden, daß jene universelle Verwendung, welche [...] schon seit Jahren für das Stereoskopverfahren gefordert wird, durch die objektiv arbeitende Ausgestaltung nun erreicht ist, welche wir den Untersuchungen Professor Hasselwanders verdanken." Tatsächlich gestattete das Verfahren messtechnisch eine exakte Lagebestimmung.

Röntgenstrahlen fürs Vaterland

Die in Erlangen ansässige Reiniger, Gebbert & Schall AG hatte für den frontnahen Einsatz spezielle Feldröntgenmobile produziert, die innere Verletzungen und Brüche in bislang ungekannter Präzision nachweisen. konnten: "Technik und Wissenschaft gehen in höchster Vollendung Hand in Hand [...]. Und unter all den modernen Heilmitteln, die unsere Ärzte anzuwenden wissen, ragt als besonders wichtig das Röntgenverfahren hervor". Um eine flächendeckende Ausstattung mit den neuen Apparaten finanzieren zu können, wurde wiederum die "Heimatfront" zu Spenden aufgefordert: "Wollt Ihr, die Ihr zuhause geblieben seid und nicht draußen kämpfen könnt fürs Vaterland dazu beitragen, dass [...] sie [die Verletzten] in kürzester Zeit möglichst unvermindert felddienst- oder erwerbsfähig entlassen werden können [...] so sorgt dafür, daß den Ärzten in den Lazaretten Röntgenapparate zur Verfügung stehen und Ärzte und Verwundete und das ganze Vaterland werden es Euch zu danken wissen" .

[1] Eckart, W. U.: "Der größte Versuch, den die Einbildungskraft ersinnen kann" - Der Krieg als hygienisch-bakteriologisches Laboratorium und Erfahrungsfeld. In: Eckart, W. U./Gradmann, Ch. (Hg.): Die Medizin und der Erste Weltkrieg. Pfaffenweiler 1996, S. 299-319.

[2] StadtAE Erlanger Tagblatt, 9. September 1914, Nr. 211.

[3] Vgl. MMW 6. Oktober 1914, S. 2045-2048.

[4] MMW 17. Nov. 1914, S. 2255-2257.

[5] Brunstäd, []: Der Erlanger Lazarettzug. In: Erlanger im Kriege. Ein zweiter Gruß der Universität an ihre Studenten. Erlangen 1916, S. 39-40, hier S. 40

[6] Kleist, [K.]: Nervenärztliche und psychiatrische Kriegstätigkeit. In: Erlanger im Kriege. Ein zweiter Gruß der Universität an ihre Studenten. Erlangen 1916, S. 42- 45, hier S. 43.

 

Quelle: 200 Jahre Universitätsklinikum Erlangen, 1815 – 2015. Hg. Karl-Heinz  Leven/Andreas Plöger. Böhlau: Köln/Weimar/Wien 2016, S. 145ff.