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"Entlassung durch die Militärregierung"

Quelle: Universitätsbibliothek Erlangen-Nürnberg
Quelle: Universitätsbibliothek Erlangen-Nürnberg

Nach Ende des Zweiten Weltkrieges war für die Alliierten die vollständige Beseitigung aller NS-Strukturen oberstes Ziel. Im August 1945 wurden am Universitätsklinikum Erlangen mit einer Ausnahme alle medizinischen Ordinarien entlassen. Trotz ihrer NS-Vergangenheit konnten viele von ihnen ihre Karrieren später fortsetzen.

Who was a nazi?

Die "Entnazifizierung" verlief nach Kriegsende in zwei Phasen. Laut Direktive JCS (Joint Chiefs of Staff) 1067 vom 11. November 1944 sollten alle aktiven Mitglieder der NSDAP sowie die Führungskräfte aus Militär, Beamtenschaft und Industrie aus ihren Ämtern entlassen werden. Die sich anschließende Phase der Entnazifizierung war durch das "Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus" vom 5. März 1946 geregelt. Die Durchführung lag jetzt bei den unter der Aufsicht der Militärregierung stehenden deutschen Behörden. Von den bis Ende September 1946 in Bayern entschiedenen Fällen waren über 90 % vom Befreiungsgesetz für "nicht betroffen" erklärt worden. Von den übrigen Fällen hatte man entsprechend der vorzunehmenden Kategorisierung in "Hauptschuldige", "Belastete", "Minderbelastete", "Mitläufer" und "Entlastete" wiederum vier Fünftel als "Mitläufer" und "Entlastete" eingestuft. Diese von der US-amerikanischen Militärregierung als skandalös kritisierte bayerische Entnazifizierungspraxis hatte zur Folge, dass bis Ende 1949 im Freistaat lediglich 0,3 % "Hauptschuldige" ermittelt wurden.[1]

Erlanger Uni-Klinikum zwischen "Entnazifizierung" und Wiederaufbau

In der Stadt Erlangen waren im September 1945 insgesamt 4.102 Personen in die Kategorie "Belastete" eingestuft worden, die Gesamtzahl erhöhte sich später auf über 13.000. In der zweiten Phase ermittelten die jetzt zuständigen deutschen Spruchkammern 92 % "Mitläufer oder "Amnestierte", lediglich 8 % der Fälle wurden als "Minderbelastete", "Belastete" und "Hauptschuldige" eingestuft. Viele von ihnen gingen in den 1950er-Jahren erfolgreich in Berufung. Die ehemaligen "Parteigenossen" wurden von Stadt und Universität zügig wieder in ihre alten Positionen eingesetzt, da sie wie überall als Funktionsträger dringend benötigt wurden.[2] Speziell an der Erlanger Universität hatte sich die entlassungsbedingte Personalknappheit allerdings umso stärker bemerkbar gemacht, als die Universität in Erlangen im Gegensatz zu den Universitäten in München und Würzburg unzerstört geblieben war und demzufolge einen enormen Andrang an Studierenden erlebte. Da der Klinikbetrieb zur Sicherung der medizinischen Versorgung - anders als der von der US-amerikanischen Militärregierung vorübergehend eingestellte Universitätsbetrieb - ohne Unterbrechung aufrechterhalten werden musste, erlaubte die Militärregierung bereits im August 1945 den Entlassenen zumindest die ärztliche Weiterarbeit in den Kliniken.

An der Medizinischen Fakultät betrafen die ersten Entnazifizierungsmaßnahmen im Mai 1945 nahezu alle Ordinarien, u. a. den Pädiater und ehemaligen SS-Obersturmführer Albert Viethen, den Gynäkologen und Rektor der Universität  Hermann Wintz (1887 - 1947) (Präventive "Ausmerze") sowie den Psychiater Friedrich Meggendorfer (1880 - 1953) und den Rechtsmediziner Hans Molitoris (1874 - 1972). Insgesamt waren die ersten Nachkriegsjahre geprägt von einer raschen Abfolge von Entlassungen, Rehabilitationen und Wiedereinstellungen, konfliktträchtigen "Lagerbildungen" von "Mitläufern" und "Entlasteten" sowie gegenseitigen Beschuldigungen im Zuge der Entnazifizierung. So warfen sich die entlassenen Hochschullehrer und Anatomen Albert Hasselwander (1877 - 1954) und Johannes Hett (1894 - 1986) gegenseitig vor, in die letztlich nicht geklärte Ermordung eines polnischen Zwangsarbeiters verstrickt gewesen zu sein.[3] Aber auch der umgekehrte Fall, die gegenseitige Entlastung durch das Ausstellen sogenannter "Persilscheine" war weitverbreitet. Dabei blieben die von den Entlastungszeugen angeführten "Beweise" häufig wenig aussagekräftig. So führte der damalige Rektor der Diakonissenanstalt Augsburg zur "Entlastung" des entlassenen Wintz an, dieser habe einer ausscheidenden Oberschwester als Ausdruck seiner Würdigung eine Bibel überreicht, dies sei Zeichen seiner Distanz zum Nationalsozialismus gewesen.[4] Bei anstehenden Diskussionen um Neu- und Wiederbesetzungen kam es wie im Fall der Besetzung des Lehrstuhls für Frauenheilkunde mit dem ehemaligen Oberarzt der Frauenklinik, Rudolf Dyroff (1893 - 1966), zu regelrechten "Wiederbesetzungsdramen", in die hohe politische Instanzen involviert waren. Der Gynäkologe Dyroff hatte nach seiner Entlassung durch die US-amerikanischen Behörden in Erlangen eine Privatklinik gegründet und betrieb von dort aus zielstrebig die Fortführung seiner wissenschaftlichen Karriere. Verwandtschaftliche Beziehungen zum damaligen Kultusminister Alois Hundhammer (1900-1974)nutzend, wurde Dyroff zunächst außerordentlicher Professor und 1950 Lehrstuhlinhaber.

Der Direktor der Kinderklinik von 1939 bis 1945 Albert Viethen (1897 - 1978) war aufgrund seiner Mitgliedschaft in der SS aus seinem Amt entlassen und im Internierungs- und Arbeitslager Nürnberg-Langwasser interniert worden. Zu seiner Verteidigung führte der ehemalige SS-Obersturmbannführer im ersten Spruchkammerverfahren 1947aus, er habe seine enge Bindung an die katholische Kirche auch in der NS-Zeit nie aufgegeben und habe auch "Ostkinder" von "Fremdarbeitern" in die Klinik aufgenommen. Er wurde zunächst in die Kategorie IV "Mitläufer" eingestuft, konnte aber 1948 eine Wiederaufnahme seines Verfahrens durchsetzen, aus dem er als "Entlasteter" hervorging. Ab 1949 arbeitete er als Chefarzt des Kinderkrankenhauses Felicitas in Berchtesgaden, 1958 erhielt er vom Bayerischen Kultusminister für Unterricht und Kultus die akademischen Rechte eines entpflichteten ordentlichen Professors an der Erlanger Universität. Im Sommer 1963 wurde gegen Viethen erneut Anklage erhoben. Aus der Erlanger Kinderklinik wurden zwischen April 1942 und November 1944 insgesamt 20 Kinder in die "Kinderfachabteilung" der Heil- und Pflegeanstalt Ansbach überwiesen. In 11 Fällen war Viethen für die Überweisung verantwortlich. Die genaue Anzahl der  in Ansbach im Rahmen der "Kindereuthanasie"  ermordeten Kinder,  lässt sich nicht sicher klären. Mit höchster Wahrscheinlichkeit  wurden sieben  der von Viethen überwiesenen Kinder mit dem Betäubungsmittel Phenobarbital getötet.

Viethen beteuerte, von dem nationalsozialistischen "Euthanasieprogramm" nichts gewusst zu haben, seine strafrechtliche Verfolgung wurde daher mit Beschluss vom 4. Mai 1964 ausgesetzt. Dass er entgegen seiner Behauptungen von den Vorgängen sehr wohl Kenntnis gehabt hat, ist wahrscheinlich, aber nicht nachweisbar.[5]

Die "braune" Karriere war auch bei der Einstellung des Psychiaters Berthold Kihn (1895 - 1964) kein Hindernis. Kihn, in den 1930er-Jahren Privatdozent und Oberarzt an der Psychiatrischen Universitätsklinik Erlangen, hatte 1938 den Lehrstuhl für Psychiatrie in Jena übernommen. Als Vordenker der Euthanasie und Gutachter der "Aktion T4"[6] war er mitverantwortlich für die NS-"Euthanasie". Nach Ende des Zweiten Weltkrieges kehrte er nach Erlangen zurück und wurde dort 1951 Honorarprofessor an der Universität.

[1] Historisches Lexikon Bayerns: https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Entnazifizierung, aufgerufen am 23.02.2016

[2] Erlanger Stadtlexikon. Hg. C. Friedrich, B. von Haller, A. Jakob. Nürnberg 2002, S. 230 f.

[3] Wendehorst, A.: Geschichte der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. 1743 – 1993. München 1993, 236 f.

[4] 200 Jahre Universitätsklinikum Erlangen 1815–2015. Hg. Karl-Heinz Leven/Andreas Plöger. Böhlau: Köln/Weimar/Wien 2016, S. 423.

[5] Bussiek, D: Albert Viethen, Direktor der Universitäts-Kinderklinik in Erlangen 1939–1945. In: Rascher, W./Wittern-Sterzel, R. (Hg.): Geschichte der Universitäts-Kinderklinik Erlangen. Göttingen 2005, S. 125–211.

[6]  Der Name "Aktion T 4" für die erste systematische Massenvernichtungsaktion im Nationalsozialismus leitet sich vom Sitz der zuständigen zentralen Dienststelle in der Berliner Tiergartenstraße 4 ab.

Literatur: 200 Jahre Universitätsklinikum Erlangen, 1815 – 2015. Hg. Karl-Heinz  Leven/Andreas Plöger. Böhlau: Köln/Weimar/Wien 2016, S. 214-218; 262-316; S. 511 ff. (Chronologisches A-Z des Universitätsklinikums Erlangen).