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Präventive "Ausmerzung"

Hermann Wintz, Universitätsbibliothek Erlangen-Nürnberg
Hermann Wintz, Universitätsbibliothek Erlangen-Nürnberg

"habe nur geholfen und nicht experimentiert" -  Neue Methode für Schwangerschaftsabbrüche an NS- Zwangsarbeiterinnen entwickelt

Im Zweiten Weltkrieg mussten im "Großdeutschen Reich" ca. 13,5 Millionen Menschen aus ganz Europa Zwangsarbeit leisten. Entsprechend der NS-Rassenideologie waren die Lebens- und die Arbeitssituation der sogenannten Ostarbeiter aus der Sowjetunion besonders hart. Schwangere Ostarbeiterinnen wurden in den meisten Fällen zur Abtreibung gezwungen.

Präventive "Ausmerzung"

An der Frauenklinik Erlangen wurden unter der Direktion von Herman Wintz (1887 - 1947) zwischen Juni 1943 und Mai 1945 an mindestens 136 Zwangsarbeiterinnen aus Polen und der Sowjetunion Schwangerschaftsabbrüche vorgenommen. Formale Grundlage für die Abtreibungen bei den sogenannten Ostarbeiterinnen war eine Anordnung des Reichsgesundheitsführers Leonardo Conti vom 1. März 1943, nach der "auf Wunsch der Schwangeren" ein Schwangerschaftsabbruch vorgenommen werden konnte. Abtreibungen bei Zwangsarbeiterinnen gehörten als präventive "Ausmerzung" zu den bevölkerungspolitischen Instrumentarien der NS-Politik. Trotz der formalen Freiwilligkeit waren die meisten Abbrüche erzwungen, die Frauen standen unter massivem Druck.

Auf der Station C der Frauenklinik standen im Saal 108 eigens sechs Betten bereit. Die Abbrüche wurden im Frühstadium der Schwangerschaft instrumentell durch Mutterhalskanalerweiterung und Auskratzung der Gebärmutter, in späteren Stadien der Schwangerschaft durch das Legen eines Gummiballons (Metreuryse) vorgenommen. Mehr als drei Viertel dieser Abbrüche wurden nach dem dritten Schwangerschaftsmonat vorgenommen, die Hälfte davon sogar nach Ende des fünften Schwangerschaftsmonats. Die Komplikationsrate, insbesondere durch massive Infektionen, dieser Verfahren war so hoch, dass Herman Wintz seinen Assistenzarzt Max Brandl anwies, eine neue Methode zu entwickeln. Brandl experimentierte daraufhin mit einer Ethylseifenlösung, die er 109 schwangeren Frauen in unterschiedlicher Konzentration verabreichte. Mindestens eine Zwangsarbeiterin starb nach dem Eingriff. In fünf Fällen kam es zu fraglichen Intoxikationen durch die verabreichte Ethylseifenlösung.

Der Verbleib der Krankenunterlagen, die nähere Auskunft über die Verläufe der Zwangsabtreibungen geben könnten, ist ungeklärt. Für die 109 von Brandl behandelten Frauen waren keine detaillierten Krankenakten geführt, sondern entgegen der normalen Praxis lediglich Kurvenblätter mit einzelnen Angaben angelegt worden. Diese befanden sich zudem nicht in der Frauenklinik, sondern in Brandls Privatwohnung.

"habe nur geholfen und nicht experimentiert"

Auf Betreiben der US-amerikanischen Entnazifizierungsbehörde (Office Military Government for Bavaria Attention) setzte Universitätsrektor Eduard Brenner am 15. Oktober 1946 eine Untersuchungskommission zur Überprüfung der Vorgänge ein. Die von den Kommissionsmitgliedern befragten, an den Abtreibungen beteiligten Ärzte ließen keinerlei Unrechtsbewusstsein erkennen. Hermann Wintz gab 1946 an, er sei als Direktor der Klinik gegen die Abtreibungen gewesen, habe die Klinik dann aber doch zur Verfügung gestellt, um diese "armen Ostarbeiterinnen" vor Gefahren zu bewahren: "Ich versuchte einer als unerhört empfundenen Maßnahme eine humane Lösung zu geben".

Laut des Assistenzarztes Brandl waren die Anträge zur Durchführung der Abtreibung jeweils von der Schwangeren selbst und ihrem Vater unterschrieben und vom zuständigen Gauamtsleiter angenommen worden. Er, Brandl, habe die neue Methode im Auftrag des damaligen Leiters Wintz entwickelt, um die Mortalität auf ein Minimum zu senken. Er habe dies nach bestem Wissen und Gewissen getan, habe nur geholfen und nicht experimentiert. Die Methode sei ihm von einem russischen Arzt empfohlen worden. Er habe Euxyl chemisch überprüfen und sich dessen Eignung bestätigen lassen. Außerdem sei das Verfahren bei medizinischer Indikation auch bei deutschen Frauen angewendet worden. Die Unterbrechungen seien auch nicht, wie vom Gauarbeitsamt geplant, in einer dafür vorgesehenen Baracke ausgeführt worden, sondern auf Station C der Frauenklinik unter den gleichen Bedingungen wie bei deutschen Frauen. An anderer Stelle führte Brandl zu seiner Entlastung an, er habe nicht gewusst, dass es sich um Verschleppte gehandelt habe.[1]

Gedenktafel der Firma Siemens, Erlangen. Foto: Uni-Klinikum Erlangen 2015
Gedenktafel der Firma Siemens, Erlangen. Foto: Uni-Klinikum Erlangen 2015

"bei fehlendem Willen zum Kind"

Auch der gleichfalls zur Rechenschaft gezogene Oberarzt Rudolf Dyroff (1883 - 1966) wies jede persönliche Verantwortung von sich. Als Gynäkologe sei für ihn bei "fehlendem Willen zum Kind", der bei den Ostarbeiterinnen gegeben sei, mit der Abtreibung durch die Schwangere selbst zu rechnen gewesen. Die ärztlichen Unterbrechungen seien daher das kleinere Übel gewesen. Dies bliebe "seelische Last", aber "moralische Rechtfertigung" der Ärzte, so Dyroff.[2]

In der Stadt Erlangen lebten über 3.700 Zwangsarbeitende, die zumeist unter katastrophalen hygienischen Bedingungen in Lagern untergebracht waren. Viele der zum Schwangerschaftsabbruch eingewiesenen Ostarbeiterinnen waren in den kriegswichtigen elektrotechnischen Firmen wie den Siemens-Reiniger Werken (SRW) eingesetzt. Die Sterblichkeitsrate der in den Lagern geborenen "Ostkinder" war deutschlandweit extrem hoch.

Verletzung der ethischen Standespflichten

Die Rechtfertigungsversuche der Beteiligten konnten die Untersuchungskommission nicht überzeugen. Sie empfahl – ungeachtet etwaiger strafrechtlicher Konsequenzen – die Entlassung der Ärzte, die als wissenschaftliche und standesethische Erzieher der künftigen akademischen Jugend und als Universitätslehrer untragbar geworden seien. Ihr widerspruchloses Hinnehmen eines Befehles „von oben“ stellte nach Meinung der Kommissionsmitglieder eine klare Verletzung der ethischen Standespflichten dar.

Wiedereinsetzung in Amt und Würde

Nachdem Dyroff 1946 zunächst mit anderen an Zwangssterilisationen und Abtreibungen beteiligten Ärzten entlassen worden war, wurde seine Bewerbung um das Amt des Klinikdirektors laut dem Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" vom damaligen bayerischen Kultusminister Alois Hundhammer erfolgreich unterstützt: Dyroff hatte von 1952 bis zu seiner Emeritierung 1962 das Amt und die Professur für Geburtshilfe und Frauenheilkunde, das Direktorat der Frauenklinik mit Poliklinik und die Leitung der Hebammenschule inne. 2001 veranlasste der heutige Direktor der Frauenklinik, Prof. Dr. Matthias W. Beckmann, die Entfernung der in der Öffentlichkeit umstrittenen Büsten der früheren Direktoren Hermann Wintz und Rudolf Dyroff.

[1] Niederschrift über die Sitzung der Sonderkommission am 15.10.46. In: UAE C3/7d/16646. Blatt 112-117. Hier: Blatt 112.

[2] Bericht der Untersuchungskommission der Universität Erlangen zu den Abtreibungen an Ostarbeiterinnen vom 23.10.1946, Anlage 3: Nachtragsäußerung von Dyroff zu seiner Vernehmung. In: UAE A6/3d Nr. 21.

Quelle: 200 Jahre Universitätsklinikum Erlangen, 1815 – 2015. Hg. Karl-Heinz  Leven/Andreas Plöger. Böhlau: Köln/Weimar/Wien 2016, S. 262ff.

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